Schon beim Durchschreiten des historischen Eingangsportals wird den Förderreferent*innen des NEUSTART Sofortprogramms klar, dass sich die zweite Station ihres Projektbesuchs in einem geschichtsträchtigen Gebäude befinden. Auf dem backsteinfarbenen Tor sind noch die Erbauer des Gebäudekomplexes in der Sophienstraße zu lesen. Der Berliner Handwerkerverein hatte das Gebäude 1905 als Vereinsheim errichtet. Heute, darauf weisen die gelb-weißen Flaggen am Portal hin, residieren hier die Sophiensæle, eine Produktions- und Spielstätte für die freien darstellenden Künste mit einem Schwerpunkt auf Tanz und Nachwuchsförderung.
Im Hinterhof erwartet sie Kerstin Müller, Geschäftsführerin der seit 25 Jahre bestehenden Sophiensæle. Neben ihr steht Cosmo, eine weiß-zerzauste Promenadenmischung, dessen rechter Hinterlauf mit einer blauen Bandage umwickelt ist. Über der Geschäftsführerin glitzert eine Diskokugel an der Fassade des vierstöckigen Backsteinbaus. Müller ist eng verbunden mit dem Gebäude, durch dessen labyrinthartigen Wege sie ihre Besucher*innen in der nächsten Stunde führen wird.
Neue Publikumsführung
„Ein wichtiger Schritt für uns war, die Publikumsführung total zu verändern.“ Sie beginnt ihren Rundgang und deutet auf vom Regen gelbverwaschene Punkte auf dem grauen Betonboden: „Hier waren Inseln zum Trennen des Publikums eingerichtet. Heute funktioniert das auch ohne.“ Die Gruppe läuft an den Tensatoren vorbei, die wie die Aufsteller das Publikum leiten und auch Teil der Förderung von NEUSTART sind. Müller öffnet eine Tür, die vom Hinterhof in das Gebäude führt, und bereitet die Förderreferent*innen auf das Innere des Gebäudes vor: „Wir wollten nichts auf schick machen, hier in Mitte ist genug schick. Nicht wundern über die Optik. Das ist durchaus beabsichtigt.“ Sie gehen durch einen früher nicht genutzten Gang zur Kantine, den seit der neuen Publikumsführung auch durstige Gäste durchschreiten. Cosmo, dessen Verletzung ihn nicht zu behindern scheint, folgt. Gelb-violette Lämpchen leuchten ihnen den Weg – ein weiterer Bestandteil der Förderung.
Die Bar in der Kantine
Waren die Zuschauer*innen zuvor gewohnt, im Festsaal-Foyer im ersten Stock ein Getränk zu sich zu nehmen, so trifft sich das Publikum jetzt in der Kantine im Erdgeschoss, ein 230 Quadratmeter großer Veranstaltungsraum, dessen Namen an seine kaiserzeitliche Nutzung als Handwerker-Schänke erinnert. „Wow!“ ertönt es unisono, als sie die Kantine betreten. Der Raum ist erstaunlich groß, obwohl er der kleinste der drei Säle der renommierten Produktions- und Spielstätte ist. Die Wände sind kahl, abgeblätterter Putz und Farbreste verleihen dem Saal die erwähnte Optik, die man gemeinhin als Berliner-Schick bezeichnet. Der schwarze Tanzboden tut das Übrige. Die von einer Gitterkonstruktion an der hinteren Decke herabhängenden Grünpflanzen und die farbigen Deckenleuchten schaffen eine Atmosphäre, bei der man gerne ein Getränk zu sich nimmt. Kaffee und Wasser stehen für den Besuch bereit. Die modulare Edelstahltheke im vorderen Teil des Raumes wurde mit der Förderung aus dem Foyer im ersten Stock hierher verlegt, um weitere Elemente ergänzt und mit Schutzscheiben versehen.
Streaming
Gegenüber der Bar ist die geförderte Kamera- und Streaming-Ausrüstung speziell für die Gäste des Sofortprogramms aufgebaut. Die Sophiensæle hatten schon früher Videos zu Dokumentationszwecken produziert, die Ausrüstung dafür musste aber teuer gemietet werden. Während der Pandemie wurden Aufführungen und Diskussionsrunden gestreamt. „Wir haben schon zuvor Videos produziert, aber nicht in der Qualität. Mir hats den Schuh weggehauen, als ich die ersten Aufnahmen gesehen habe“, erinnert sich Müller. „Ein Lerneffekt ist, dass wir auf diesem Weg ein ganz anderes, weltweites Publikum ohne Reisekosten erreichen können. Wir werden das auch weiterhin nutzen.“ Hätte sie mehr Zeit zum Überlegen gehabt, hätten sie sich noch ein umfangreicheres Equipment zugelegt. Für ein aktuelles Projekt musste eine weitere Kamera dazu gemietet werden.
Spuren der Vergangenheit
Kerstin Müller setzt ihre Führung durch ausladende Treppenhäuser und verschlungene Gänge fort: „Wenn man hier neu beginnt, verläuft man sich.“ Sie führt ihre Besucher*innen zum Festsaal, dessen Tribüne zurzeit nach dem Schachbrett-Prinzip bestuhlt ist, da für sie eine 2-G-Regelung in diesem Jahr nicht in Frage kommt: „Das Publikum fühlt sich so wohl. Das ist für uns ein wichtiger Faktor.“ Im Saal fanden zu Kaisers Zeiten 1.000 Menschen Platz. Heute können hier normalerweise 250 Gäste dem spartenübergreifenden Programm folgen, die Abstandsregeln erlauben aktuell eine Auslastung von 50 Prozent. Auf ihrem Weg durch das Gebäude, von dem die Sophiensæle drei Stockwerke gemietet haben, kommen sie an 116 Jahre alten Original-Fenstern, einem antiken Kühlschrank, einem umgebauten Lichtschacht, der die Logen im Festsaal beleuchtete, und an Fotografien, Zeugnisse der ehemaligen Pracht des Handwerker-Vereinsheims, vorbei.
Gaderobenplätze Marke Eigenbau
Nach einem kurzen Blick in den Hochzeitssaal, in dem gerade Proben stattfinden, endet die Führung in einem Raum, der für die Pandemiezeit als zweite Garderobe genutzt wird. Früher nahm hier wahrscheinlich die feine Gesellschaft einen Sekt zu sich, bevor es zu den Logen ging. Der Holzboden knarrt, an der Decke ist Stuck. Im Raum verteilt sind sechs geförderte, selbst zusammengebaute Garderobenplätze. Aufgeklappt können sich die Künstler*innen im Spiegel betrachten, zusammengeklappt und -geschoben dienen sie als Tisch, eine kreative Notlösung. „Deshalb war unsere Abrechnung auch so kleinteilig, mit Schrauben und Scharnieren“, sagt die Geschäftsführerin lachend.
Entschleunigung
Als sie gefragt wird, wie sie die Lockdowns erlebt hat, wird sie wieder ernster. Ihr liegen ihre Mitarbeiter*innen und Künstler*innen noch mehr am Herzen als das Gebäude. „Wir wollten niemanden auf der Strecke lassen. Nicht die Künstler*innen im Stich lassen, nicht das Personal“, sagt sie nachdenklich. Sorge um Mitarbeiter*innen und Künstler*innen, Gespräche mit Behörden, Kurzarbeit, Verunsicherung, abgesagte Projekte, aber auch viel Entgegenkommen der Förderer prägten diese Zeit. Und dann kam nach einem noch zu Ende geführten Festival der zweite Lockdown, der für sie „motivationstechnisch“ noch schwerer war. Doch an einer Erfahrung will sie festhalten: „Ich hoffe bis heute, dass sich etwas für die Kulturszene retten lässt: Entschleunigung.“ Die Sophiensæle setzen sich intensiv mit diesem Thema auseinander, um die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte und Künstler*innen zu verbessern. Hier sei aber, betont die Geschäftsführerin, die gesamte Kulturszene gefordert.
Für das Team geht es weiter zum Literaturforum im Brecht Haus, die dritte Station ihres Projektbesuchs.
Weiterlesen:
NEUSTART zu Besuch bei Berliner Veranstaltungsorten – erste Station: Theater der kleinen Form
NEUSTART zu Besuch bei Berliner Veranstaltungsorten – dritte Station: Literaturforum im Brechthaus