Das Zimmertheater hat seit dem 16. März 2021 im Rahmen des Tübinger Modellprojektes wieder für Publikum geöffnet. Voraussetzung für die Öffnung ist ein Hygienekonzept, das mithilfe des NEUSTART Sofortprogramms realisiert werden konnte. Im Interview sprechen die Intendanten über strahlende Gesichter bei der Wiedereröffnung und fordern Spielräume für den „Kultursommer“.
NEUSTART: Seit dem 16. März 2021 hat Ihr Theater im Rahmen des Tübinger Modellprojekts nach monatelanger Schließung wieder geöffnet. Wie haben Sie von dieser Entscheidung erfahren?
Ripberger: Die Öffnungsmöglichkeit für unser Theater kam unverhofft. Wir waren zwar zum Ende der Vorwoche „vorgewarnt“ worden, dass ein entsprechender Antrag der Stadt Tübingen beim Ministerium gestellt sei; zu den Erfolgsaussichten konnte es aber naturgemäß keine verbindlichen Aussagen geben.
NEUSTART: Die Entscheidung traf Sie also aus heiterem Himmel?
Ripberger: Niemand war ja Mitte März so kühn-optimistisch, etwas Derartiges zu erwarten. Seit Januar hatte sich doch allgemein die Prognose durchgesetzt: Vor Ostern gebe es ohnehin keine Auferstehung der Kultur. Letztlich war es der 15. März um 17 Uhr, als die Genehmigung des Modellprojekts offiziell vorlag. Um 16:30 Uhr trafen wir Oberbürgermeister Boris Palmer noch zufällig vor dem Buchladen, der zwar positive Signale, aber noch nichts Verbindliches in der Hand hatte. 24 Stunden vor der dann vollzogenen Öffnung.
NEUSTART: Und dann der große Tag: Wie haben Sie die Wiedereröffnung erlebt?
Ripberger: Die Öffnung am Folgetag war ein euphorisches Ereignis mit strahlenden Gesichtern bei den Kolleg*innen. Wir hatten das freudvolle Gefühl schon beinahe ein wenig verlernt, wie es ist, echte Menschen im Theater willkommen zu heißen. Es fühlt sich wunderbar an, ähnlich dem Zauber eines ersten geglückten Theatererlebnisses.
NEUSTART: Und was sagen Ihre Gäste?
Ripberger: Die Gäste sind glücklich und begeistert. Wir haben eine enorme Sehnsucht und Dankbarkeit gespürt. Das hat sich in spontanen Überwältigungsmomenten geäußert, tosendem Applaus, lächelnden Gesichtern, liebevollen Rückmeldungen. Auffällig ist, dass es mucksmäuschenstill ist im Theater. Kein Bonbonrascheln, kein Räuspern. Bei uns kommt das als Wertschätzung dieser kostbaren, intimen Situation an, in die man sich gemeinsam mit den Schauspieler*innen begeben darf. Der Theaterbesuch ist dieser Tage etwas außergewöhnlich Besonderes.
NEUSTART: Wie unterscheidet sich denn ein Theaterbesuch im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit?
Ripberger: Der Besuch im Tübinger Zimmertheater im Modellversuch setzt voraus, dass man sich an einer der städtischen Teststationen ein Tübinger Tagesticket besorgt hat. Nach einem negativen Schnelltest gibt es ein Armband mit QR-Code. Diesen QR-Code zeigt man dem Vorderhauspersonal – und dann darf man rein. Die Auslastung liegt bei ca. einem Drittel der Platzkapazität von vor der Pandemie. Die Dauer der Inszenierungen haben wir bewusst nicht überstrapaziert. Trotz Schnelltest, UV-C Luftreinigung, Frischluft, Abstandsregelungen, Hygienestationen und Plexiglas gilt: die Maske bleibt die ganze Zeit auf. Das ist der wohl größte Unterschied zum Theaterbesuch vor März 2020.
NEUSTART: Zu einem Theaterbesuch gehört in Zeiten der Pandemie auch ein sicheres Hygienekonzept. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Ripberger: Unser Hygienekonzept wurde im April 2020 erstellt – in engem Austausch mit verschiedenen Theatern des Deutschen Bühnenvereins, der ein best-practice Portal bereitgestellt hat, und viel Lektüre von durch Branchenverbände im gesamten deutschsprachigen Raum erstellten Konzepten. Das war und ist ein work in progress, schon um die Anpassungen der regelmäßigen berufsgenossenschaftlichen VBG-Richtlinien einfließen zu lassen. Stand heute verwenden wir Version 8 unseres Hygienekonzepts, das sich stets in der Sakkotasche befindet, falls das Ordnungsamt mal vorbeikommt. Das Hygienekonzept wurde innerstädtisch abgestimmt, mit dem Fachbereich Kultur und der zuständigen Bürgermeisterin.
NEUSTART: Für Ihr Hygienekonzept mussten Sie Raumluftfilteranlagen installieren und bauliche Veränderungen in Ihrem Theater vornehmen. Dafür haben Sie eine Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm erhalten. Was bedeutete für Sie die Förderung des Bundes?
Ripberger: Die Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm war ein wichtiger Impulsgeber und ein Signal des Bundes: Hier wird eine sinnvolle Maßnahme geplant, die nachhaltig einen sicheren Spielbetrieb ermöglicht. Die maximale Fördersumme hat nicht ausgereicht, um alle erforderlichen Maßnahmen durchzuführen, damit unsere Spielstätten Corona-gerecht ertüchtigt werden. Kommune und Land haben uns zusätzlich unterstützt, sodass im Herbst 2020 neben unseren bisherigen beiden Hauptspielstätten im Stammhaus eine moderne, sichere Spielstätte zur Verfügung stand, die auch baulich die Voraussetzung für Abstand bietet: genug Platz.
NEUSTART: Bei Ihnen sind Ihre Zuschauer*innen also bestmöglich vor einer Infektion geschützt?
Ripberger: Wir können stolz und selbstbewusst sagen, dass wir die Richtlinien tendenziell übererfüllen – das war uns auch für den Modellversuch sehr wichtig. Unsere oberste Prämisse war, keinerlei Risiko einzugehen und absolut nichts dem Zufall zu überlassen, denn das Tübinger Modellprojekt hat als Präzedenzfall bundesweit Vorbildfunktion.
NEUSTART: Dennoch halten viele Öffnungen bei steigender Inzidenz für nicht angebracht. Was entgegnen Sie den Kritikern?
Ripberger: Das Tübinger Modellprojekt leuchtet das Dunkelfeld der Pandemie aus. Die Testdichte ist nirgendwo in Deutschland höher als hier. Nur da, wo Ansteckungsrisiken aufgedeckt werden, werden sie durch rasche Reaktion handhab- und beherrschbar. Schaut man sich den Verlauf der Inzidenz in der Stadt Tübingen an, kann man zu dem Schluss kommen: das Modellprojekt funktioniert. Wir liegen Stand 20. April bei der Hälfte der Inzidenz Baden-Württembergs.
NEUSTART: Am 23. April tritt das geänderte Infektionsschutzgesetz in Kraft. Damit muss auch Ihr Theater wieder schließen. Was sagen Sie zu der neuen Situation?
Ripberger: Leider macht das Infektionsschutzgesetz keine sinnvollen Differenzierungen für den Kulturbereich: Weder ist die Möglichkeit vorgesehen, hoffnungsvolle Modellprojekte fortzusetzen, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, noch werden die zahlreichen Studien zur Unbedenklichkeit von kulturellen Veranstaltungen in den aufwändig ertüchtigten Sälen zur Kenntnis genommen. Es hätte zumindest eine Unterscheidung zwischen Indoor- und Outdoor-Veranstaltungen getroffen werden müssen, damit die Hoffnung auf einen kulturellen Sommer erhalten bleibt. Pläne für Openair-Projekte liegen jetzt auf Eis, Einnahmemöglichkeiten für freischaffende Künstler*innen fallen weg – viele verlieren die Hoffnung. Pandemiegerechte Kulturangebote können funktionieren, mehr noch: wir brauchen die Künste für die gesellschaftliche Bewältigung dieser Krise. Die fortgesetzte politische Marginalisierung des Kulturbereichs ist daher nicht akzeptabel. Die Kritik, die wir jetzt äußern, darf aber nicht den falschen Kräften Wasser auf die Mühlen schaufeln – da müssen wir extrem aufpassen.
NEUSTART: Vielen Dank für das Gespräch und bleiben Sie beide gesund!