Das Deutsche Theater Göttingen und die Freie Bühne Jena sind in der Krise neue Wege gegangen. Sie haben den öffentlichen Raum als Bühne entdeckt. In Göttingen lebte das Theatergebäude visuell und akustisch auf. In Jena trafen Besucher*innen auf einen menschgewordenen Virus.

Das Deutsche Theater Göttingen (DT) und die Freie Bühne Jena zeigen, wie sie mit innovativen, außergewöhnlichen Aktionen wieder mit dem Publikum real interagieren konnten. Ihr Ziel war es,  Kunst auch bei geschlossenen Bühnen weiterzuführen. Um ihre Theaterprojekte pandemiegerecht umsetzen zu können, haben sie klassische Aufführungsorte verlassen und den öffentlichen Raum als Bühne des Augenblicks genutzt. Das NEUSTART Sofortprogramm stattete sie mit dem nötigen digitalen und technischen Rüstzeug aus.

Das Deutsche Theater in Göttingen

Das Deutsche Theater Göttingen kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Seit seiner Gründung 1890 ist es zum größten und bekanntesten Schauspielhaus Göttingens avanciert. Es wird seit der Spielzeit 2014/2015 von Erich Sidler geleitet. Als Intendant hat er den Anspruch, einen Ort des Diskurses, der realen Begegnung und der vertieften Auseinandersetzung zu schaffen. Für Sidler ist Theater immer auch ein wichtiger Teil gelebter Demokratie. Letztlich geht es ihm dabei um den Austausch über die Frage, wie Menschen miteinander leben möchten.

Das Theater lebt in den Köpfen der Menschen weiter

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, entwickelten Sidler und sein Team fortlaufend Ideen, wie sie ihr Publikum in Zeiten geschlossener Theaterhäuser erreichen können. Unter der Regie von Antje Thoms entstand das Projekt Fragen über Fragen:

Im November 2020 wurde das gesamte Theatergebäude in eine Installation verwandelt. Das Haus wurde für die spielfreie Zeit verbarrikadiert. Verschläge vor den Eingängen sollten die Vereinsamung des Theatergeschehens ausdrücken, die aus der Einstellung des Spielbetriebes folgte. Im selben Zeitraum lebte das Haus jeden Tag um 17.45 Uhr für eine Viertelstunde mit einer Licht- und Toninstallation auf, um den schlummernden Geist des Theaters erlebbar zu machen. Dabei wurde über eine große Verstärkeranlage die Innenstadt Göttingens mit Fragen bekannter Philosophen und Autoren beschallt. Diese durchstreiften das Reich des vermeintlich Alltäglichen und bargen zugleich das Potenzial tieferer Reflexion: „Welches Bein ist Dir beim Gehen sympathischer, das am Boden oder das in der Luft? Wie oft gehst Du ohne festes Ziel vor die Tür? Warum weint man manchmal erst, wenn man getröstet wird?“

Für Regisseurin Antje Thoms sind es vor allem die Fragen und weniger die Antworten, die uns voranbringen. Denn ohne Fragen gibt es keine Irritation, keine Selbstreflexion. Fragen haben die Kraft, etwas zu verändern. Intendant Erich Sidler erklärt: „Das Besetzen des akustischen Raumes einer Stadt wie Göttingen mit Fragen, die uns alle beschäftigen, regelmäßig und lautstark, sendet Signale, dass Theater, auch wenn geschlossen, in den Köpfen der Menschen weiterlebt.“

Einmal auftanken mit Kultur bitte!

Etwas mehr Tuchfühlung mit den Besucher*innen nimmt das Theater in seinem Projekt Tankstelle auf. Thoms und Sidler haben sich dabei von dem Ort inspirieren lassen, der mit seinem Sortiment des täglichen Bedarfs selbst um zwei Uhr morgens schon so manchen Engpass ausgleichen konnte. In der DT-Tankstelle werden kulturelle Gelüste befriedigt, gleich welche Stunde es geschlagen hat. Die Tankstelle stand in unmittelbarer Umgebung des Deutschen Theaters. Besucher*innen verbrachten drei Minuten lang an einem Schalter im Eins-zu-eins-Kontakt mit einem Mitglied des Ensembles. Bei Begegnungen, Literatur, Dramen, Heiterkeit und Musik ließ sich hier wieder geistig und emotional auftanken.

Die Freie Bühne Jena

Im Jahr 2009 gründete eine Gruppe engagierter Menschen den gemeinnützigen Verein Freie Bühne Jena e.V. Daraus ist eine Plattform entstanden für Freies Theater, Amateurtheater und Theaterpädagogik, die neugierige, kreative, kulturwütige und kunstbesessene Menschen durch Theaterprojekte vernetzt. Die Freie Bühne Jena versteht sich als Vertretung freier Theatergruppen und möchte die freie Szene stärken. In verschiedenen Theaterprojekten, die für alle Altersgruppen Möglichkeiten zur Beteiligung bieten, wirken rund 100 Personen mit. Sie bespielen neben der Bühne im Kulturschlachthof Jena regelmäßig ungewöhnliche Orte wie Höhlen, Industriehallen oder Parkplätze.

Konfrontation mit einem menschgewordenen Virus

Der Projektkoordinatorin Franziska Brandt und ihren Mitstreitern kam die Flexibilität bei der Wahl des Aufführungsortes in diesen außergewöhnlichen Zeiten sehr zugute. Mit Ihrem Projekt Stadtgeflüster verwandelten sie die Innenstadt Jenas in einen theatralen Raum. Die Teilnehmer*innen wurden in einer Schnitzeljagd mithilfe von Tablets und der App Actionbound zu vielen kleinen Aufführungsorten gelenkt.

Einer dieser Alltagsorte, ein Springbrunnen auf einem gediegenen Innenstadtplätzchen, wird plötzlich zu einer außergewöhnlichen Szenenfläche. In der Mitte des Springbrunnens stehen zwei junge Frauen Rücken an Rücken. Plötzlich erschallt eine Soundinstallation und die Körper erwachen zum Leben, umkreisen sich, ringen miteinander. Die tanzenden Körper erzählen von Nähe und Distanz, von Streit und Versöhnung. In einer Einkaufspassage springt ein menschgewordenes Virus in die Gruppe der Besucher, konfrontiert sie mit ihren Ängsten und regt zur Auseinandersetzung mit diesen an.

Allen Performances im öffentlichen Raum ist das Thema Krise zugrunde gelegt. Sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Herausforderungen werden thematisiert. Jede Szene schließt mit einer Frage ab, die jede*n Einzelne*n ermutigt aktiv über das Erlebte nachzudenken. Was macht Eltern aus eurer Erfahrung zu glücklichen und zufriedenen Menschen? Bleibst du dir treu? Erzähle davon, wer du sein würdest, wenn dich nichts zurückhalten oder einengen würde? Franziska Brandt erklärt: „Es war uns wichtig, dass wir keine „richtige“ Strategie vorgeben, sondern das Publikum selbst, jede*r Einzelne, Pärchen oder gar Fremde in einen Austausch über den momentanen Zustand der Gesellschaft und ihres eigenen Lebens kommen.“ Gerade in dieser Zeit, in der große Teile des gesellschaftlichen Miteinanders und Austauschs verloren gehen, hält Brandt das Mittel des Diskurses und des Austauschs für eine der wichtigsten Strategien mit Krisen umzugehen.

Gestärkt aus der Krise hervorgehen

Dass die Besucher so positiv auf das Format Stadtgeflüster reagierten, hat laut Brandt unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie Theater und Kunst auf eine neue Weise entdecken, die wenig mit dem klassischen Theaterraum gemein hat. Durch die digitale Schnitzeljagd kam zum anderen ein spielerischer Charakter hinzu, der zur Eigeninitiative, Selbstorganisation und Kommunikation mit den anderen Gästen anregte. Egal ob persönliche oder auch existenzielle Krise, Brandt geht es darum, nicht zu verharren und in Frustration zu verfallen. Krisen können auch genutzt werden, um daran zu erstarken.

Theater zu den Menschen bringen

Eben diese Haltung, sich den Herausforderungen aktiv zu stellen und sie als Motor zu nutzen, verkörpert auch das Deutsche Theater Göttingen. Entsprechend sind auch die Besucher*innenreaktionen. Auf der Webseite der Installation Fragen über Fragen fasst eine Besucherin ihre Eindrücke zusammen: „Es hatte etwas Gespenstisches, gleichzeitig auch Tröstliches: Wir dürfen wohl mal verwirrt sein, uns in Fragen verirren, in Anbetracht all der diesjährigen Veränderungen nah und fern!“

Auch die DT-Tankstelle wurde mit großer Begeisterung vom Publikum aufgenommen. Eine Besucherin schreibt an das Deutsche Theater und bringt die Bedeutung dieses Formats mit einem Augenzwinkern auf den Punkt: „[…] auch wenn ich vergeblich versucht habe, Zigaretten und ‘nen Six-pack zu bekommen, habe ich anstelle dessen so viel bekommen: Nähe (!), Ansprache, Anekdoten und sogar eine Prise Interaktion.“

Kultureinrichtungen wie die Freie Bühne Jena oder das Deutsche Theater Göttingen zeigen, dass es trotz Corona möglich und vor allem nötig ist, Theater zu den Menschen zu bringen und dies ganz gleich, ob in einem barocken Theaterhaus oder auf dem Parkplatz nebenan.


Weitere Informationen:

Das Hamburger Kindermuseum Kl!ck und die Alte Papierfabrik Greiz sind für die dort beheimateten Menschen wichtige Orte des kulturellen Erlebens und Austausches. Mit der Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm haben sie sich auf die Fortsetzung ihrer kulturellen Arbeit vorbereitet. Für die Zukunft wünschen sie sich die Stärkung von Kinderrechten und Ehrenamt sowie die Förderung von pandemiebedingten Mehrkosten.

Die Siedlung Osdorfer Born wurde 1967-1972 errichtet und entstammt dem stadtplanerischen Konzept des urbanen Wohnens am Stadtrand. Charakteristisches Merkmal sind die Hochhäuser mit versetzt angebrachten asymmetrischen Balkonen. Seit 2004 bereichert das Kl!ck Kindermuseum Hamburg auf 2 500 Quadratmetern das Viertel im Westen der Hansestadt. Ein Aufenthalt in den USA, woher das Konzept der kids museums stammt, inspirierte Margot Reinig zur Gründung des Kl!ck. Der Zugang zum Museum ist niedrigschwellig. Für Bewohner*innen des Quartiers ist der Eintritt umsonst. Im Rahmen der Quartiersarbeit gibt es Angebote wie die „Leselibelle“, das Außengelände bietet eine Baustelle mit Kran und echten Mauersteinen. „Wir wollten da sein, wo viele Kinder sind und wo wir gebraucht werden“, erklärt Reinig. Mittlerweile ist das Museum eine Institution im Viertel, jede*r kann beschreiben, wo es zu finden ist.

350 Kilometer entfernt begaben sich Anfang der 2000er Jahre Jugendliche auf die Suche nach einem Ort für eine Technoparty. Als sie auf den ehemaligen VEB Papierfabrik Greiz stießen, hätten sie nicht gedacht, dass sich daraus ein bunter Treffpunkt für Menschen aus der ländlichen Region entwickeln würde. Einer dieser Jugendlichen war der heutige Vorstand des soziokulturellen Zentrums, Peter Schmidt. „Nach und nach wurde uns der historische Wert der ehemaligen Fabrik bewusst. Als 2004 die Abrissbirne drohte, gründeten wir den Verein Alte Papierfabrik Greiz e.V., um das Gebäude zu erhalten und für soziokulturelle Zwecke zu nutzen“, erinnert sich der 38-Jährige. Mit den Jugendlichen ist auch der Verein erwachsen geworden. Die Pappe, wie sie liebevoll genannt wird, arbeitet inzwischen mit anderen Vereinen, Künstler*innen und kommunalen Institutionen eng zusammen. Die wöchentlichen Konzerte sowie Theater- und Jugendprojekte leisten für die strukturschwache Ostthüringer Region einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Vielfalt.

Pandemiebedingt geschlossen

Ins Kl!ck kommen jährlich etwa 50 000 Besucher*innen, die Hälfte davon sind Schulklassen oder Kitagruppen. Die Schließung empfand Reinig für die Kinder als Katastrophe, denn die Einrichtung ist ein Ort, an dem Kinder jenseits einer bestimmten Erwartungshaltung über Fragen wirklich nachdenken dürfen. „Wir geben Anstöße und stellen Material zur Verfügung, sind aber immer ergebnisoffen“, beschreiben Reinig und ihre Mitarbeiterin Judith Rädlein ihren Ansatz. Um zumindest zu den Kindern aus der Nachbarschaft den Kontakt zu halten, verschickt das Team wöchentlich etwa 150 Bastelpakete, für viele das Highlight der Woche.

Auch die Pappe ist für die Menschen aus der Region ein offenes Haus, wo immer jemand anzutreffen ist. „Es ist schön, wenn ein*e Papiermacher*in von früher uns auf einen Kaffee besucht und Geschichten aus der Vergangenheit der Papierfabrik erzählt“, berichtet Schmidt. Nachdem im vergangenen Sommer noch einzelne Veranstaltungen durchgeführt werden konnten, sind die Tore der Pappe seit November 2020 für die Öffentlichkeit geschlossen.

Bereit für eine pandemiegerechte Öffnung

Das Hygienekonzept des Kindermuseums berücksichtigt die Erfordernisse eines Museums, bei dem das persönliche Erleben und Ausprobieren für die Wissensvermittlung zentral ist. Mehrmals täglich erfolgt eine Reinigung aller Gegenstände, Griffe und Toiletten. Am Eingang sind vier neu erworbene Desinfektionsspender auf verschiedene Höhen eingestellt, damit eine Familie sie gleichzeitig nutzen kann. Die Ausstellungsbereiche wurden voneinander getrennt, ein System lässt nur eine bestimmte Anzahl an Menschen zu. Dann zeigt die Ampel rot und signalisiert, dass kein Eintritt mehr möglich ist. Da jede Ausstellung für sich abgegrenzt ist, kann auf weniger frequentierte Räume ausgewichen werden. „Eltern und Erzieher*innen, die dies bislang nutzen konnten, waren sehr angetan. Die Kinder finden die Besucherzählung toll und rennen gerne hin und her, um den Farbeffekt zu beobachten. Wir können jederzeit wiedereröffnen, das Haus ist bereit“, erläutert Reinig. Mit Blick auf den bevorstehenden Sommer plant sie, zunächst den weiträumigen Außenbereich zu öffnen.

Die Zeit der Schließung haben die Ehrenamtlichen der Pappe genutzt, um die Kulturgarage – den zentralen Veranstaltungsort – mit der Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm mit Streaming-Equipment digital aufzurüsten und für einen pandemiegerechten Betrieb umzubauen. Tina Weidhaas, Projektmanagerin der Pappe, sieht großes Potential in der neuen Streaming-Technik, die auch Kulturschaffenden aus der Region zur Verfügung steht. So könnten mehr Menschen den Konzerten folgen und zeitgemäße Formate für Jugendliche entwickelt werden. Doch die pandemische Entwicklung bremste die digitalen Pläne vorerst aus, so dass bisher nur ein Stream mit der Astronomischen Gesellschaft Greiz e.V. umgesetzt wurde. „Bisher konnten keine weiteren Streams realisiert werden, da die ehrenamtliche Arbeit der Vereinsmitglieder als Freizeitgestaltung eingestuft wird und sie deshalb nicht arbeiten dürfen“, stellt Weidhaas konsterniert fest. Sie geht davon aus, dass die Stärkung des Ehrenamts dem Mitgliederschwund vieler Kultureinrichtungen entgegengewirkt hätte. Zudem wäre es dann leichter, die ehrenamtliche Arbeit, die gerade im ländlichen Raum viele strukturelle Lücken schließt, wiederaufzunehmen.

Vorfreude auf Kulturangebote

Für die bisherige Unterstützung des Kindermuseums durch den Bund und die Hamburger Behörden ist Reinig dankbar. Angesichts der Vielzahl kreativer Maßnahmen, die im Kulturbereich entwickelt wurden, blickt sie optimistisch in die Zukunft. Die pandemiegerechte Öffnung hat aber ihren Preis, da weniger Besucher*innen kommen können, aber mehr Personal für pädagogische Angebote, Verwaltung und Reinigung benötigt wird. Deswegen ist es wichtig, dass diese Mehrkosten gefördert werden. Ein weiteres Anliegen Reinigs ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen, denn gerade in der Pandemie wurde vieles beschlossen, ohne sie anzuhören. Im Osdorfer Born ist Beteiligung längst an der Tagesordnung. „Ohne die Osdorf-Kiddies wird im Quartier kein Spielplatz umgestaltet“, berichtet Margot Reinig. Sie und Rädlein können es kaum erwarten, dass sich ihr Kinderkulturzentrum wieder mit Leben füllt: „Wir fiebern der Öffnung entgegen, uns fehlen die Kinder so sehr.“

In der Pappe konzentrieren sich alle auf das Open-Air am 13. und 14. August, bei dem sechs Bands auftreten und ein mit dem Theater- und Kulturförderverein der Vogtlandhalle e.V. entwickeltes Theaterstück aufgeführt wird. „Für die Menschen der Region hoffen wir, ein Live-Erlebnis zu schaffen, das es sonst im näheren Umkreis so nicht gibt“, freut sich Weidhaas auf das Highlight des Vereinsjahres. Da aktuell maximal 150 Personen auf dem Gelände zugelassen sind, ist der Verein auf weitere Förderung angewiesen, um den Künstler*innen angemessene Gagen zu zahlen. Ob Tina Weidhaas und Peter Schmidt gemeinsam mit den Greizer*innen auf dem Open-Air auch das Tanzbein schwingen dürfen, ist wegen der geltenden Bestimmungen noch ungewiss.
Sicher hingegen ist, dass das Kl!ck in Hamburg und die Alte Papierfabrik in Greiz einen pandemiegerechten Betrieb gewährleisten können und mit ihrer Arbeit auch in Zukunft zur kulturellen Vielfalt beitragen möchten.


Weitere Informationen

 

Der Artikel ist erschienen in der Zeitschrift SOZIOkultur zum Thema KOMMUNE [ Heft 2/2021 ]