Die Pandemie verkehrte den kulturpolitischen Anspruch einer „Kultur für alle“ ins Gegenteil. „Kultur für niemanden“ hieß es zunächst im März 2020. Für Kulturschaffende stellte sich die Frage, wie sie ihr Publikum trotz geschlossener Türen erreichen können. Das Kindertheater Mummpitz und der Jazzclub Unterfahrt zeigen mit jazzigen Streams, wie sie Barrieren überwinden.
„Wir überlegten schon zu Beginn der Pandemie, ob wir Jazz für Kinder online anbieten“, erinnert sich Autor und Schauspieler Michael Schramm vom Theater Mummpitz. Gemeinsam mit den Musikern Ferdinand Roscher und Gabriel Drempetic entwickelte er zu Beginn der Pandemie die Idee, das erfolgreiche Bühnenformat als Online-Format auf Youtube fortzuführen.
Schramm ist inhaltlicher, Roscher musikalischer Leiter. Produktionsleiter Drempetic führt als König Semmelwurst durch die 20-minütigen Shows, die einen einzigartigen Mix aus Puppentheater und Jazz bieten.
Seit Anfang April 2020 begeistern Roscher, seine Musikerkollegen und Puppenspielerin Panja Rittweger mit kindergerechten Geschichten und Jazz, der nicht nur den Jüngsten Spaß macht. Acht Folgen können bisher auf Youtube angeschaut werden. Die Resonanz auf das Online-Angebot des Kindertheaters ist beachtlich. Die erste Folge, bei der ein teuflischer Husten besiegt werden muss, erreichte bisher über 5.000 Aufrufe. Autor Schramm freut sich über den Erfolg: „Wir hatten zuerst keine Vorstellung davon, wie das Programm angenommen wird. Jazz für Kinder ist bei uns auf der Bühne eine Erfolgsgeschichte. Insofern war natürlich schon die Hoffnung da, dass sich der Zuspruch der Zuschauer*innen fortsetzt. Dass es dann so viele wurden, hat uns doch positiv überrascht.“
Jazzclub Unterfahrt – durch Streaming mehr Menschen erreichen
Positiv blickt auch Michael Stückl, Vorstand und künstlerischer Leiter des Förderkreises Jazz und Malerei München e.V., auf die ersten Streaming-Erfahrungen des international renommierten Jazzclubs Unterfahrt zurück: „Wir haben einen deutlichen Zuwachs an Fördermitgliedern verzeichnen können, wir konnten den Musikern sehr gute Honorare bezahlen und wir haben unser Publikum nicht nur gebunden, sondern dieses mit Sicherheit sogar vergrößern können.“ Der Mediziner Stückl engagiert sich seit den 1980ern für das Fortbestehen des Jazzclubs und wurde dafür von der Stadt München ausgezeichnet.
Die Unterfahrt hat ihre Heimat in der Einsteinstraße in der Münchner Innenstadt. Der 160 Personen fassende Jazzkeller kann in seiner 40-jährigen Geschichte auf mehr als 12.000 Konzerte zurückblicken. Dort wo sonst nationale und internationale Größen des Jazz sowie Nachwuchskünstler*innen auftreten, kehrte im März 2020 wie im ganzen Land die Stille ein. Stückl und seinem Team war klar, dass andere Wege gefunden werden mussten, Musiker*innen und Publikum zusammenzubringen. Schnell wurde die notwendige technische Ausstattung organisiert und am 11. April 2020 das erste Konzert gestreamt. Bis zum Ende des Jahres wurden so 190 Konzerte aus dem Münchner Jazzkeller in heimische Wohnzimmer übertragen.
Die Online-Konzerte der Unterfahrt erfreuen sich nicht zuletzt dank einer professionellen technischen Ausstattung großer Beliebtheit: Durchschnittlich schauen sich doppelt so viele Zuschauer*innen ein Konzert per Live-Stream an, wie normalerweise im Jazzkeller Platz finden.
Mit Qualität die Zielgruppen begeistern
Bei der Produktion der Streams legt die Unterfahrt ein besonderes Augenmerk auf die Qualität von Bild und Ton, um sich von den in der Pandemie allgegenwärtigen Wohnzimmerkonzerten abzuheben „Wenn man das Publikum 90 Minuten in einem Livestream halten will, dann muss die Qualität höchst professionell sein“, erklärt Stückl. Für die herausragende Qualität der Konzert-Streams sorgen sechs festinstallierte, fernsteuerbare Kameras und ein professioneller Bildregieplatz, die durch das NEUSTART Sofortprogramm gefördert wurden.
Die Qualität der Aufnahmen ist auch den Theatermacher*innen in Nürnberg wichtig. So werde der Ton noch in einem Tonstudio nachbearbeitet, erklärt Schramm. Einen regionalen Fernsehsender überzeugten die Aufnahmen derart, dass die Jazzreihe nun auch im Fernsehen laufe. Doch der Autor weiß aus der 40-jährigen Erfahrung des Kindertheaters, worauf es bei seinen jungen Zuschauer*innen am meisten ankommt: „Gute Musik, eine Geschichte die Kinder mitnimmt, Aktionen, die Kinder zum Mitmachen animieren und natürlich Spaß!“ So rege man die Kinder an, selbst Musik zu machen und die Geschichten mit allen Emotionen zu erleben.
Jazz für jede*n
Die Mehrheit der im Rahmen des NEUSTART Sofortprogramms entwickelten Streams stehen den Nutzer*innen kostenlos zur Verfügung. Auch in Nürnberg sind sich Theatermacher*innen treu geblieben: „Jazz für Kinder war immer als kostenloses oder sehr günstiges Angebot an unsere Besucher*innen gedacht. Wir wollen dieses Format allen Menschen zur Verfügung stellen, unabhängig vom Einkommen.“
Doch die Spendenbereitschaft der Menschen ist groß. „Das positive Feedback, das wir erhalten, zeigt sich vor allem auch durch eine hohe Spendenbereitschaft bei den Zuschauern,“ berichtet Michael Stückl. „Viele spenden freiwillig deutlich mehr, als wir für ein Onlineticket verlangen könnten. Wir sind relativ sicher, dass wir durch die Kombination aus Freiwilligkeit ein deutlich größeres Publikum und deutlich höhere Einnahmen erreichen.“ Die kostenlosen digitalen Angebote sichern in der Pandemie die kulturelle Teilhabe. Ohne weitere Förderungen und Spenden oder der Etablierung kostenpflichtiger Streaming-Angebote ließe sich die zusätzliche digitale Kulturvermittlung aber wohl kaum in eine Post-Corona-Zeit übertragen.
Streaming-Angebote müssen langfristig erhalten bleiben
Ob der jazzige Kasperl auch zukünftig im Netz unterwegs sein wird, ist für Michael Schramm ungewiss: „Wir würden zu Beginn der neuen Spielzeit das Online-Format gerne fortsetzen. Dies hängt natürlich von vielen Faktoren ab: Zeit, Geld, Ressourcen der Mitarbeiter*innen. Im Grunde bräuchten wir dafür eine zusätzliche Förderung.“ In der Unterfahrt gehen die Pläne schon weiter. Hier gab es schon vor der Pandemie Überlegungen, Konzerte gegen Kauf eines Tickets im Stream zu übertragen. Mit der geförderten technischen Ausstattung und dem in der Pandemie entwickelten Know-how werden in einer Post-Corona-Zeit auch Menschen mit einem Online-Angebot versorgt werden können, die kein Ticket mehr bekommen haben oder denen die Anreise zu weit ist.
Streams bauen Barrieren ab
Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist das Streaming von kulturellen Angeboten weit verbreitet. Aus der Not haben sich viele der geförderten Kultureinrichtungen in die digitale Kulturvermittlung geflüchtet und Spaß daran gefunden. Sicher, die Flucht ins Digitale wird kein Exil bleiben. In einer Post-Corona-Zeit werden Bühnen belebt und Säle gefüllt sein. Streams werden weniger. Kultur wird wieder hauptsächlich über das körperliche Begegnen und den zwischenmenschlichen Austausch erlebbar. Doch was aus der Not entstanden ist, wird nachwirken. Das Digitale hat mit der Krise endgültig Einzug in die Kulturvermittlung gehalten. Und es wird bleiben. Streams – seien sie kostenlos oder -pflichtig – bauen Barrieren ab: So kann jede*r unabhängig von Ort oder Zeit, trotz körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen an kulturellen Angeboten partizipieren.
Weitere Informationen:
Das NEUSTART Sofortprogramm ermöglichte Museen, neue digitale Vermittlungsstrategien für den Museumsbesuch zu entwickeln. Die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung im Münsterland, die Museen der Stadt Schwedt/Oder und die Saigerhütte im Erzgebirge haben mit multimedialen Angeboten digitale Zugänge zu ihren Ausstellungen geschaffen. So entstand vielerorts das erweiterte Museum.
Eine Virtual-Reality-Brille, kurz VR-Brille, zeigt eine digitale künstliche Welt, die die Realität widerspiegelt. Das Haus Rüschhaus im Münsterland, viele Jahre der Wohnsitz der Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff, hat zwei VR-Brillen angeschafft. Damit können die Besucher*innen in einem 360 Grad Rundgang die Wohnräume der berühmten Literatin kennenlernen, ohne direkt durch die Räume zu gehen. Die Enge des Hauses lässt eine Besichtigung unter Einhaltung der Abstandsregeln kaum zu, deshalb ermöglicht der virtuelle Rundgang die Aufrechterhaltung des Kulturangebots während der Pandemie.
Ein neuer Blick auf Exponate
Viele Museen bewegen sich beim Einsatz der futuristischen Brillen auf Neuland. „Es wird eine neue ästhetische Sicht entwickelt“, betont Kerstin Mertenskötter, Projektleiterin von Droste Digital. Die 360-Grad-Aufnahmen, die sich mit den VR-Brillen betrachten lassen, gewähren durch Heranzoomen und den Einsatz von Lichteffekten einen neuen Blick auf die ausgestellten Exponate. Kerstin Mertenskötter ist überrascht, wie gut das Angebot der VR-Brillen über die Altersgruppen hinweg angenommen wurde: „Auch die Menschen, die damit zunächst nichts anfangen konnten, waren nach dem 20-minütigen Rundgang begeistert. Familien, die eine Fahrradtour zur Burg Hülshoff gemacht haben, legten eine Pause ein und Kinder sind gezielt zu den VR-Brillen gegangen.“
Als weiteres digitales Angebot sind vier Videos zu Befreundeten Objekten entstanden, die von den Mitarbeiter*innen vorgestellt werden. Autor*innen haben dazu Texte verfasst und sie selbst eingelesen. Auch während der Schließung der Einrichtung können Interessierte sich Objekten wie der Kutsche, mit der Annette Droste-Hülshoff nach Münster fuhr, oder dem Herd als Zentrum der historischen Küche annähern.
Digitale Wissensvermittlung außerhalb der Museumsmauern
Für Kerstin Mertenskötter liegen die Vorteile der neuen digitalen Angebote klar auf der Hand: Es müssen keine großen Anfahrten zurückgelegt werden, um einen Einblick in museale Inhalte zu bekommen. Bilder und Videos außerhalb der Museumsmauern zur Verfügung zu stellen, bauen Berührungs- und Schwellenängste ab. Nutzer*innen bekommen Zugang zu den Museumsinhalten in ihrer vertrauten Umgebung, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Auch Menschen deren Mobilität eingeschränkt ist, können nun die Lebenswelt der berühmten Dichterin in Bild und Ton kennenlernen.
Das digitale Angebot ist dennoch eher eine Ergänzung des realen Museumsbesuchs als ein Ersatz. Die körperlich-sinnliche Dimension können Interessierte am intensivsten vor Ort erleben: Auf der kopfsteingepflasterten Burgzufahrt scheinen Gäst*innen noch das Pferdegetrappel der adeligen Kutsche zu hören, die die Dichterin für Reisen etwa ins vier Kilometer entfernte Münster nutzte. In der historischen Küche sticht den Besucher*innen Jahrhunderte alter Rußgeruch in die Nase.
Kontaktloser Abruf von Informationen mit individueller Route
Ganz real, dafür aber auf eigene Faust, lassen sich die historischen Bauten der ehemaligen Industriegemeinde Saigerhütte Olbernhau-Grünthal erkunden. Das Gelände im sächsischen Erzgebirge war jahrhundertelang ein Zentrum zur Gewinnung von Buntmetallen aus Erzen. Die Saigerhütte ist als Teil der Montanregion Erzgebirge seit 2019 UNESCO-Welterbe. Auf dem großflächigen Museumsareal befinden sich zahlreiche bauliche Denkmäler. Das Zentrum stellt die 1562 errichtete Lange Hütte dar.
Als Alternative zu persönlichen Führungen startete die Stadt Olbernhau ein bislang einzigartiges Projekt: Über Multimediasäulen, sogenannte Stecknadeln, sind Informationen direkt am jeweiligen Standort abrufbar. Damit wird eine kontaktlose Geländeführung rund um die Uhr ermöglicht. „Mit diesem neuartigen Stecknadelsystem werden die Besucher*innen in die Lage versetzt, sich kontaktlos im Gelände zu Häusern, Geschichte, Leben und Arbeit zu informieren“, erklärt Udo Brückner, Betriebsleiter für Kultur und Tourismus in Olbernhau. Die Stecknadelsäulen arbeiten mit Infrarot und Bewegungsmeldern, so dass ein Berühren nicht erforderlich ist. Die Besucher*innen erhalten zu Beginn eine Karte mit RFID-Chip, der die Kommunikation mit den Säulen übernimmt. So ausgerüstet bewegen sie sich frei über das Gelände und erhalten an den Säulen Informationen zu den jeweiligen Knotenpunkten. Ein weiterer Vorteil des Stecknadelsystems ist, dass die Besichtigung auf die individuellen Bedürfnisse der Besucher*innen angepasst werden kann: Je nach Altersgruppe, Vorkenntnissen und zur Verfügung stehender Zeit schlägt das System eine passende Route vor.
Mehr Orientierung im Gelände
Mit den frei wählbaren Routen wird das gesamte Gelände erschlossen. „Die Besucher*innen sind häufig orientierungslos durch das weitläufige Gelände gegangen und haben bestimmte Bereiche vernachlässigt“, schildert Udo Brückner. So wird beispielsweise der zuvor kaum beachtete Hüttenteich, in welchem das Wasser zum Antrieb von Wasserrädern gespeichert war, in den Routen berücksichtigt. Wer anstatt der Säulen sein Smartphone einsetzen möchte, kann eine Erweiterung für weitere zwölf Informationspunkte nutzen. Natürlich werden – abhängig von den Corona-Verordnungen – auch weiterhin Gruppenführungen angeboten. Doch für Menschen, die ihren Besuch individuell gestalten möchten, hat das Museum mit der neuen Technik ein attraktives Angebot auf dem Museumsareal umgesetzt.
Abbau von Barrieren durch Digitalisierung
Die an der Grenze zu Polen gelegene Stadt Schwedt/Oder hat für ihr Stadtmuseum, das Ritualbad und das Tabakmuseum einen 360 Grad Rundgang produzieren lassen. Auf der Webseite können Interessierte von Zuhause aus die Stufen des jüdischen Ritualbads hinabsteigen, im Gebetbuch des Martin Graf von Hohenstein blättern und die Geschichte des Tabakanbaus an der Unteren Oder kennenlernen. „Die Digitalisierung baut Barrieren ab. Auch Menschen, die physisch nicht in der Lage sind, die Museen zu besuchen, können einen Blick auf die Schwedter Geschichte werfen. Während der Pandemie-bedingten Schließung ist der virtuelle Rundgang ein Schatz für die Häuser“, erklärt Museumsleiterin Anke Grodon.
Auch in Post-Corona-Zeiten werden die digitalen Inhalte den Musemsbesuch bereichern. Die digitale Vermittlung der Museumsinhalte ist dank der neuen Audio- und Videoguides auf eine neue Ebene gehoben worden. Damit ist eine zukunftsweisende, innovative Lösung zur kulturellen Teilhabe für alle geschaffen, die dankbar von den Besuchern angenommen wird. Außerdem besteht jetzt die Möglichkeit, Museen, die lediglich saisonal geöffnet sind, ganzjährig digital zu besuchen. Anke Grodon gibt allerdings zu bedenken: „Das Digitale ist eine Möglichkeit der Überbrückung, eine Chance, im Gespräch zu bleiben. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Museen keinen Platz mehr brauchen.“ Das Museum als Ort der Wissensvermittlung, der Begegnung und des Austausches hat auch im digitalen Zeitalter seine Berechtigung.
Digitale Öffnung der Museen als Folge der Corona-Pandemie
Konfrontiert mit Schließungen und Kontaktbeschränkungen während der Pandemie haben Museen in die Digitalisierung der Ausstellungsvermittlung investiert. Insbesondere kleinere Einrichtungen betraten damit Neuland. Unter Pandemiebedingungen dienten die digitalen Formate dazu, den Kontakt mit den Menschen aufrechtzuerhalten oder die Zugänglichkeit von Objekten zu gewährleisten. Doch den persönlichen Besuch vollständig ersetzen können digitale Rundgänge nicht, da die körperlich-sinnliche Dimension für das Erleben eines historischen Ortes elementar ist. In der Post-Corona-Zeit werden digitale Angebote den analogen Museumsbesuch ergänzen und vertiefen.
Damit ergeben sich insbesondere für Museen in Regionen abseits großer Touristenströme Chancen, neue Zielgruppen anzusprechen und Barrieren abzubauen. Die digitalen Angebote müssen den Nutzer*innen einen Mehrwert liefern. Die Beispiele haben gezeigt, wie dieser Mehrwert aussehen kann: Ganze Ausstellungen können unabhängig von Ort und Zeit besichtigt werden, Besuche individueller und partizipativer gestaltet werden sowie neue ästhetische Erlebnisse geschaffen werden. So kann die Krise als Ausgangspunkt einer umfassenden digitalen Öffnung der Museen und einer neuen Ära musealen Erlebens dienen.
Weitere Informationen:
- Droste-Museum Burg Hülshoff und Haus Rüschhaus, Havixbeck
- Museum Saigerhütte, Olbernhau
- Städtische Museen Schwedt/Oder