Kulturelle Gestaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen waren während der Pandemie stark eingeschränkt. Drei Einrichtungen mit einem tanzpädagogischen Schwerpunkt fanden kreative Lösungen zur Weiterführung ihrer Angebote. Denn gerade beim Tanzen sind Konzentration, Koordination, Bewegung und Spaß eng miteinander verbunden und helfen, Stress abzubauen. Die Initiative LUNA PARK aus Berlin, We Dance e.V. aus Weimar und das tanzwerk bremen verlegten ihre analogen Tanzangebote ins Digitale und setzten dabei auf Partizipation und Medienkompetenz.
Der Verein LUNA PARK engagiert sich seit Jahren im Berliner Stadtteil Wedding. Tänzer*innen realisieren dort in Zusammenarbeit mit Grundschulen, Kitas und lokalen Partnern vielfältige künstlerische Projekte der außerschulischen Bildung. Kosmas Kosmopoulos ist künstlerischer Leiter der seit 2003 bestehenden Initiative. Er beschreibt, wie sehr den Kindern ihre Angebote während des Lockdowns gefehlt haben: „Es war deprimierend mitanzusehen, wie sich in den Monaten der strikten Kontaktbeschränkungen die fehlende Stimulanz zur Bewegung und die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten auf die Kinder ausgewirkt haben.“ Mit dem Projekt „Wir gehen Online!“ konnten er und sein Team „die Kinder wieder in Bewegung bringen“, erzählt der Choreograf und Tanzpädagoge.
Tanz für Kinder aus dem Kiez
Zur Umsetzung der digitalen Angebote schaffte der Verein Laptops für Videoschnitt sowie Kameras an. Für Familien im Kiez, die selbst über keine internetfähigen Endgeräte verfügen, bot die Initiative die Ausleihe von Laptops an. In den Online-Kurse lasen die Pädagog*innen mit den Kindern Theatertexte und tauschten sich mit ihnen über den Inhalt und den Bezug der Märchen zu ihrer eigenen Lebenswelt aus, übten Tänze ein und tanzten gemeinsam. Die Kinder nahmen die Angebote mit großer Begeisterung an. Oft waren auch die Eltern und Geschwisterkinder bei den digitalen Kursen mit dabei.
Gemeinsam digitale Angebote gestalten
In der thüringischen Kulturstadt Weimar bietet der Verein We Dance e.V., zeitgenössischen Tanz für Kindern und Jugendliche an. We Dance hat sich zum Ziel gesetzt, künstlerisch anspruchsvolle Tanzprojekte für Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren finanziellen Verhältnissen anzubieten. Gemeinsam mit anderen Vereinen haben sie als Interessensgemeinschaft „Schwungfabrik“ eine alte Halle des ehemaligen VEB Wägetechnik bezogen.
Der Verein legt großen Wert darauf, gemeinsam mit den jungen Menschen digitale Formate zu entwickeln: Mit der Unterstützung von Medienpädagog*innen drehten und schnitten Kinder und Jugendliche eigene Tanz-, Theater und Musikvideos. „Die ersten Streamingversuche waren zugegeben etwas holprig, da dies für uns ein völlig neues Terrain war, konnten aber dann schnell an Qualität gewinnen“, erzählt Vorstandsmitglied und Schatzmeister, Dr. Marius Torka.
Das magische Handtuch
Während der Lockdowns hielten die Tanzpädagog*innen die Kinder und Jugendlichen zu Hause bei Laune: Sie boten Dance Tutorials für Kinder und Jugendliche an. Zudem gestalteten sie selbst Videos mit. In der Hip-Hop Dance Challenge Video „Das Magische Handtuch“, eine Idee des Künstlers Dennis Serikow, drehten sie selbst kurze Sequenzen, die dann zu einem Ganzen zusammengeschnitten wurden. Dadurch wirkt es, als würden die Tänzer*innen am Ende ihrer Schritte jeweils dem nächsten Tänzer ein Handtuch zuwerfen.
Brücken bauen
Das tanzwerk bremen bietet Tanzangebote und Tanzprojekte für alle Altersstufen von Kitakindern bis Senioren. Zentrales Anliegen des Vereins ist es laut Selbstbeschreibung, „Brücken zueinander zu bauen“ und „Freude an der Bewegung zu vermitteln“. Über das NEUSTART Sofortprogramm war das Tanzwerk in der Lage in die Digitalisierung einzusteigen und wöchentlich Online-Angebote durchführen zu können.
Die digitalen Tanzangebote erfreuten sich großer Beliebtheit. Der Geschäftsführer Wolf Kleinecke resümiert: „Die Kinder und Jugendlichen waren begeistert von dem digitalen Format. Allerdings war es nicht immer so einfach, sie konzentriert bei der Stange zu halten, da sie ohnehin schon viel online waren.“ Das Team des tanzwerk bremen würde sich zwar noch mehr über viele analoge Angebote freuen, möchte aber künftig auch im digitalen Bereich neue Formate ausprobieren.
Digital wirkt – aber begrenzt
Digitale Tanzangebote funktionieren, wie die Angebote von LUNA PARK, We Dance und dem Tanzwerk Bremen zeigen. Die Kinder und Jugendlichen konnten auch während der Phasen der Kontaktbeschränkungen erreicht werden. Zugleich erwarben sie Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Aber Tanz, darin sind sich alle einig, lebt vor allem vom direkten Kontakt miteinander. Die digitalen Formate können kein Ersatz für analoge Präsenzformate darstellen, aber sie können eine gewinnbringende Ergänzung sein. Die neu entwickelten Angebote werden weiterhin genutzt, sei es, um Menschen die Möglichkeit zu geben, digital an einem analogen Angebot teilzunehmen oder um mittels Live-Stream das eigene Tanzen von der digitalen in die analoge Welt zu holen.
Das Deutsche Theater Göttingen und die Freie Bühne Jena sind in der Krise neue Wege gegangen. Sie haben den öffentlichen Raum als Bühne entdeckt. In Göttingen lebte das Theatergebäude visuell und akustisch auf. In Jena trafen Besucher*innen auf einen menschgewordenen Virus.
Das Deutsche Theater Göttingen (DT) und die Freie Bühne Jena zeigen, wie sie mit innovativen, außergewöhnlichen Aktionen wieder mit dem Publikum real interagieren konnten. Ihr Ziel war es, Kunst auch bei geschlossenen Bühnen weiterzuführen. Um ihre Theaterprojekte pandemiegerecht umsetzen zu können, haben sie klassische Aufführungsorte verlassen und den öffentlichen Raum als Bühne des Augenblicks genutzt. Das NEUSTART Sofortprogramm stattete sie mit dem nötigen digitalen und technischen Rüstzeug aus.
Das Deutsche Theater in Göttingen
Das Deutsche Theater Göttingen kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Seit seiner Gründung 1890 ist es zum größten und bekanntesten Schauspielhaus Göttingens avanciert. Es wird seit der Spielzeit 2014/2015 von Erich Sidler geleitet. Als Intendant hat er den Anspruch, einen Ort des Diskurses, der realen Begegnung und der vertieften Auseinandersetzung zu schaffen. Für Sidler ist Theater immer auch ein wichtiger Teil gelebter Demokratie. Letztlich geht es ihm dabei um den Austausch über die Frage, wie Menschen miteinander leben möchten.
Das Theater lebt in den Köpfen der Menschen weiter
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, entwickelten Sidler und sein Team fortlaufend Ideen, wie sie ihr Publikum in Zeiten geschlossener Theaterhäuser erreichen können. Unter der Regie von Antje Thoms entstand das Projekt Fragen über Fragen:
Im November 2020 wurde das gesamte Theatergebäude in eine Installation verwandelt. Das Haus wurde für die spielfreie Zeit verbarrikadiert. Verschläge vor den Eingängen sollten die Vereinsamung des Theatergeschehens ausdrücken, die aus der Einstellung des Spielbetriebes folgte. Im selben Zeitraum lebte das Haus jeden Tag um 17.45 Uhr für eine Viertelstunde mit einer Licht- und Toninstallation auf, um den schlummernden Geist des Theaters erlebbar zu machen. Dabei wurde über eine große Verstärkeranlage die Innenstadt Göttingens mit Fragen bekannter Philosophen und Autoren beschallt. Diese durchstreiften das Reich des vermeintlich Alltäglichen und bargen zugleich das Potenzial tieferer Reflexion: „Welches Bein ist Dir beim Gehen sympathischer, das am Boden oder das in der Luft? Wie oft gehst Du ohne festes Ziel vor die Tür? Warum weint man manchmal erst, wenn man getröstet wird?“
Für Regisseurin Antje Thoms sind es vor allem die Fragen und weniger die Antworten, die uns voranbringen. Denn ohne Fragen gibt es keine Irritation, keine Selbstreflexion. Fragen haben die Kraft, etwas zu verändern. Intendant Erich Sidler erklärt: „Das Besetzen des akustischen Raumes einer Stadt wie Göttingen mit Fragen, die uns alle beschäftigen, regelmäßig und lautstark, sendet Signale, dass Theater, auch wenn geschlossen, in den Köpfen der Menschen weiterlebt.“
Einmal auftanken mit Kultur bitte!
Etwas mehr Tuchfühlung mit den Besucher*innen nimmt das Theater in seinem Projekt Tankstelle auf. Thoms und Sidler haben sich dabei von dem Ort inspirieren lassen, der mit seinem Sortiment des täglichen Bedarfs selbst um zwei Uhr morgens schon so manchen Engpass ausgleichen konnte. In der DT-Tankstelle werden kulturelle Gelüste befriedigt, gleich welche Stunde es geschlagen hat. Die Tankstelle stand in unmittelbarer Umgebung des Deutschen Theaters. Besucher*innen verbrachten drei Minuten lang an einem Schalter im Eins-zu-eins-Kontakt mit einem Mitglied des Ensembles. Bei Begegnungen, Literatur, Dramen, Heiterkeit und Musik ließ sich hier wieder geistig und emotional auftanken.
Die Freie Bühne Jena
Im Jahr 2009 gründete eine Gruppe engagierter Menschen den gemeinnützigen Verein Freie Bühne Jena e.V. Daraus ist eine Plattform entstanden für Freies Theater, Amateurtheater und Theaterpädagogik, die neugierige, kreative, kulturwütige und kunstbesessene Menschen durch Theaterprojekte vernetzt. Die Freie Bühne Jena versteht sich als Vertretung freier Theatergruppen und möchte die freie Szene stärken. In verschiedenen Theaterprojekten, die für alle Altersgruppen Möglichkeiten zur Beteiligung bieten, wirken rund 100 Personen mit. Sie bespielen neben der Bühne im Kulturschlachthof Jena regelmäßig ungewöhnliche Orte wie Höhlen, Industriehallen oder Parkplätze.
Konfrontation mit einem menschgewordenen Virus
Der Projektkoordinatorin Franziska Brandt und ihren Mitstreitern kam die Flexibilität bei der Wahl des Aufführungsortes in diesen außergewöhnlichen Zeiten sehr zugute. Mit Ihrem Projekt Stadtgeflüster verwandelten sie die Innenstadt Jenas in einen theatralen Raum. Die Teilnehmer*innen wurden in einer Schnitzeljagd mithilfe von Tablets und der App Actionbound zu vielen kleinen Aufführungsorten gelenkt.
Einer dieser Alltagsorte, ein Springbrunnen auf einem gediegenen Innenstadtplätzchen, wird plötzlich zu einer außergewöhnlichen Szenenfläche. In der Mitte des Springbrunnens stehen zwei junge Frauen Rücken an Rücken. Plötzlich erschallt eine Soundinstallation und die Körper erwachen zum Leben, umkreisen sich, ringen miteinander. Die tanzenden Körper erzählen von Nähe und Distanz, von Streit und Versöhnung. In einer Einkaufspassage springt ein menschgewordenes Virus in die Gruppe der Besucher, konfrontiert sie mit ihren Ängsten und regt zur Auseinandersetzung mit diesen an.
Allen Performances im öffentlichen Raum ist das Thema Krise zugrunde gelegt. Sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Herausforderungen werden thematisiert. Jede Szene schließt mit einer Frage ab, die jede*n Einzelne*n ermutigt aktiv über das Erlebte nachzudenken. Was macht Eltern aus eurer Erfahrung zu glücklichen und zufriedenen Menschen? Bleibst du dir treu? Erzähle davon, wer du sein würdest, wenn dich nichts zurückhalten oder einengen würde? Franziska Brandt erklärt: „Es war uns wichtig, dass wir keine „richtige“ Strategie vorgeben, sondern das Publikum selbst, jede*r Einzelne, Pärchen oder gar Fremde in einen Austausch über den momentanen Zustand der Gesellschaft und ihres eigenen Lebens kommen.“ Gerade in dieser Zeit, in der große Teile des gesellschaftlichen Miteinanders und Austauschs verloren gehen, hält Brandt das Mittel des Diskurses und des Austauschs für eine der wichtigsten Strategien mit Krisen umzugehen.
Gestärkt aus der Krise hervorgehen
Dass die Besucher so positiv auf das Format Stadtgeflüster reagierten, hat laut Brandt unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie Theater und Kunst auf eine neue Weise entdecken, die wenig mit dem klassischen Theaterraum gemein hat. Durch die digitale Schnitzeljagd kam zum anderen ein spielerischer Charakter hinzu, der zur Eigeninitiative, Selbstorganisation und Kommunikation mit den anderen Gästen anregte. Egal ob persönliche oder auch existenzielle Krise, Brandt geht es darum, nicht zu verharren und in Frustration zu verfallen. Krisen können auch genutzt werden, um daran zu erstarken.
Theater zu den Menschen bringen
Eben diese Haltung, sich den Herausforderungen aktiv zu stellen und sie als Motor zu nutzen, verkörpert auch das Deutsche Theater Göttingen. Entsprechend sind auch die Besucher*innenreaktionen. Auf der Webseite der Installation Fragen über Fragen fasst eine Besucherin ihre Eindrücke zusammen: „Es hatte etwas Gespenstisches, gleichzeitig auch Tröstliches: Wir dürfen wohl mal verwirrt sein, uns in Fragen verirren, in Anbetracht all der diesjährigen Veränderungen nah und fern!“
Auch die DT-Tankstelle wurde mit großer Begeisterung vom Publikum aufgenommen. Eine Besucherin schreibt an das Deutsche Theater und bringt die Bedeutung dieses Formats mit einem Augenzwinkern auf den Punkt: „[…] auch wenn ich vergeblich versucht habe, Zigaretten und ‘nen Six-pack zu bekommen, habe ich anstelle dessen so viel bekommen: Nähe (!), Ansprache, Anekdoten und sogar eine Prise Interaktion.“
Kultureinrichtungen wie die Freie Bühne Jena oder das Deutsche Theater Göttingen zeigen, dass es trotz Corona möglich und vor allem nötig ist, Theater zu den Menschen zu bringen und dies ganz gleich, ob in einem barocken Theaterhaus oder auf dem Parkplatz nebenan.
Weitere Informationen:
Das Hamburger Kindermuseum Kl!ck und die Alte Papierfabrik Greiz sind für die dort beheimateten Menschen wichtige Orte des kulturellen Erlebens und Austausches. Mit der Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm haben sie sich auf die Fortsetzung ihrer kulturellen Arbeit vorbereitet. Für die Zukunft wünschen sie sich die Stärkung von Kinderrechten und Ehrenamt sowie die Förderung von pandemiebedingten Mehrkosten.
Die Siedlung Osdorfer Born wurde 1967-1972 errichtet und entstammt dem stadtplanerischen Konzept des urbanen Wohnens am Stadtrand. Charakteristisches Merkmal sind die Hochhäuser mit versetzt angebrachten asymmetrischen Balkonen. Seit 2004 bereichert das Kl!ck Kindermuseum Hamburg auf 2 500 Quadratmetern das Viertel im Westen der Hansestadt. Ein Aufenthalt in den USA, woher das Konzept der kids museums stammt, inspirierte Margot Reinig zur Gründung des Kl!ck. Der Zugang zum Museum ist niedrigschwellig. Für Bewohner*innen des Quartiers ist der Eintritt umsonst. Im Rahmen der Quartiersarbeit gibt es Angebote wie die „Leselibelle“, das Außengelände bietet eine Baustelle mit Kran und echten Mauersteinen. „Wir wollten da sein, wo viele Kinder sind und wo wir gebraucht werden“, erklärt Reinig. Mittlerweile ist das Museum eine Institution im Viertel, jede*r kann beschreiben, wo es zu finden ist.
350 Kilometer entfernt begaben sich Anfang der 2000er Jahre Jugendliche auf die Suche nach einem Ort für eine Technoparty. Als sie auf den ehemaligen VEB Papierfabrik Greiz stießen, hätten sie nicht gedacht, dass sich daraus ein bunter Treffpunkt für Menschen aus der ländlichen Region entwickeln würde. Einer dieser Jugendlichen war der heutige Vorstand des soziokulturellen Zentrums, Peter Schmidt. „Nach und nach wurde uns der historische Wert der ehemaligen Fabrik bewusst. Als 2004 die Abrissbirne drohte, gründeten wir den Verein Alte Papierfabrik Greiz e.V., um das Gebäude zu erhalten und für soziokulturelle Zwecke zu nutzen“, erinnert sich der 38-Jährige. Mit den Jugendlichen ist auch der Verein erwachsen geworden. Die Pappe, wie sie liebevoll genannt wird, arbeitet inzwischen mit anderen Vereinen, Künstler*innen und kommunalen Institutionen eng zusammen. Die wöchentlichen Konzerte sowie Theater- und Jugendprojekte leisten für die strukturschwache Ostthüringer Region einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Vielfalt.
Pandemiebedingt geschlossen
Ins Kl!ck kommen jährlich etwa 50 000 Besucher*innen, die Hälfte davon sind Schulklassen oder Kitagruppen. Die Schließung empfand Reinig für die Kinder als Katastrophe, denn die Einrichtung ist ein Ort, an dem Kinder jenseits einer bestimmten Erwartungshaltung über Fragen wirklich nachdenken dürfen. „Wir geben Anstöße und stellen Material zur Verfügung, sind aber immer ergebnisoffen“, beschreiben Reinig und ihre Mitarbeiterin Judith Rädlein ihren Ansatz. Um zumindest zu den Kindern aus der Nachbarschaft den Kontakt zu halten, verschickt das Team wöchentlich etwa 150 Bastelpakete, für viele das Highlight der Woche.
Auch die Pappe ist für die Menschen aus der Region ein offenes Haus, wo immer jemand anzutreffen ist. „Es ist schön, wenn ein*e Papiermacher*in von früher uns auf einen Kaffee besucht und Geschichten aus der Vergangenheit der Papierfabrik erzählt“, berichtet Schmidt. Nachdem im vergangenen Sommer noch einzelne Veranstaltungen durchgeführt werden konnten, sind die Tore der Pappe seit November 2020 für die Öffentlichkeit geschlossen.
Bereit für eine pandemiegerechte Öffnung
Das Hygienekonzept des Kindermuseums berücksichtigt die Erfordernisse eines Museums, bei dem das persönliche Erleben und Ausprobieren für die Wissensvermittlung zentral ist. Mehrmals täglich erfolgt eine Reinigung aller Gegenstände, Griffe und Toiletten. Am Eingang sind vier neu erworbene Desinfektionsspender auf verschiedene Höhen eingestellt, damit eine Familie sie gleichzeitig nutzen kann. Die Ausstellungsbereiche wurden voneinander getrennt, ein System lässt nur eine bestimmte Anzahl an Menschen zu. Dann zeigt die Ampel rot und signalisiert, dass kein Eintritt mehr möglich ist. Da jede Ausstellung für sich abgegrenzt ist, kann auf weniger frequentierte Räume ausgewichen werden. „Eltern und Erzieher*innen, die dies bislang nutzen konnten, waren sehr angetan. Die Kinder finden die Besucherzählung toll und rennen gerne hin und her, um den Farbeffekt zu beobachten. Wir können jederzeit wiedereröffnen, das Haus ist bereit“, erläutert Reinig. Mit Blick auf den bevorstehenden Sommer plant sie, zunächst den weiträumigen Außenbereich zu öffnen.
Die Zeit der Schließung haben die Ehrenamtlichen der Pappe genutzt, um die Kulturgarage – den zentralen Veranstaltungsort – mit der Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm mit Streaming-Equipment digital aufzurüsten und für einen pandemiegerechten Betrieb umzubauen. Tina Weidhaas, Projektmanagerin der Pappe, sieht großes Potential in der neuen Streaming-Technik, die auch Kulturschaffenden aus der Region zur Verfügung steht. So könnten mehr Menschen den Konzerten folgen und zeitgemäße Formate für Jugendliche entwickelt werden. Doch die pandemische Entwicklung bremste die digitalen Pläne vorerst aus, so dass bisher nur ein Stream mit der Astronomischen Gesellschaft Greiz e.V. umgesetzt wurde. „Bisher konnten keine weiteren Streams realisiert werden, da die ehrenamtliche Arbeit der Vereinsmitglieder als Freizeitgestaltung eingestuft wird und sie deshalb nicht arbeiten dürfen“, stellt Weidhaas konsterniert fest. Sie geht davon aus, dass die Stärkung des Ehrenamts dem Mitgliederschwund vieler Kultureinrichtungen entgegengewirkt hätte. Zudem wäre es dann leichter, die ehrenamtliche Arbeit, die gerade im ländlichen Raum viele strukturelle Lücken schließt, wiederaufzunehmen.
Vorfreude auf Kulturangebote
Für die bisherige Unterstützung des Kindermuseums durch den Bund und die Hamburger Behörden ist Reinig dankbar. Angesichts der Vielzahl kreativer Maßnahmen, die im Kulturbereich entwickelt wurden, blickt sie optimistisch in die Zukunft. Die pandemiegerechte Öffnung hat aber ihren Preis, da weniger Besucher*innen kommen können, aber mehr Personal für pädagogische Angebote, Verwaltung und Reinigung benötigt wird. Deswegen ist es wichtig, dass diese Mehrkosten gefördert werden. Ein weiteres Anliegen Reinigs ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen, denn gerade in der Pandemie wurde vieles beschlossen, ohne sie anzuhören. Im Osdorfer Born ist Beteiligung längst an der Tagesordnung. „Ohne die Osdorf-Kiddies wird im Quartier kein Spielplatz umgestaltet“, berichtet Margot Reinig. Sie und Rädlein können es kaum erwarten, dass sich ihr Kinderkulturzentrum wieder mit Leben füllt: „Wir fiebern der Öffnung entgegen, uns fehlen die Kinder so sehr.“
In der Pappe konzentrieren sich alle auf das Open-Air am 13. und 14. August, bei dem sechs Bands auftreten und ein mit dem Theater- und Kulturförderverein der Vogtlandhalle e.V. entwickeltes Theaterstück aufgeführt wird. „Für die Menschen der Region hoffen wir, ein Live-Erlebnis zu schaffen, das es sonst im näheren Umkreis so nicht gibt“, freut sich Weidhaas auf das Highlight des Vereinsjahres. Da aktuell maximal 150 Personen auf dem Gelände zugelassen sind, ist der Verein auf weitere Förderung angewiesen, um den Künstler*innen angemessene Gagen zu zahlen. Ob Tina Weidhaas und Peter Schmidt gemeinsam mit den Greizer*innen auf dem Open-Air auch das Tanzbein schwingen dürfen, ist wegen der geltenden Bestimmungen noch ungewiss.
Sicher hingegen ist, dass das Kl!ck in Hamburg und die Alte Papierfabrik in Greiz einen pandemiegerechten Betrieb gewährleisten können und mit ihrer Arbeit auch in Zukunft zur kulturellen Vielfalt beitragen möchten.
Weitere Informationen
Der Artikel ist erschienen in der Zeitschrift SOZIOkultur zum Thema KOMMUNE [ Heft 2/2021 ]
Der wiederholte Lockdown ist für das Jugendtheaterprojekt „Sommernachtstraum“ zur Geduldsprobe geworden – die Wiederaufnahme der Proben und die Aufführung sind ungewiss. Das NEUSTART Sofortprogramm unterstützt das Wiedereröffnungskonzept der Theaterbühne im Kulturverein Platenlaase.
Es ist Donnerstag vier Uhr, als auf der Theaterbühne im Kulturverein Platenlaase die Lichter angehen. Bis zu 25 Jugendliche kommen hier in der Gemeinde Jameln in Niedersachsen zusammen, um für ihr Stück „Sommernachtstraum“ nach William Shakespeare zu proben. Die Probe beginnt mit Aufwärmübungen im großen Kreis auf der Bühne. Zu Musik wird durch Improvisation die Fläche der Bühne erkundet, Stimm- und Sprechübungen bereiten auf die Szenenarbeit vor. Die Jugendlichen üben sich in schauspielerischem Hinfallen und Ohrfeigen, bevor sie in zwei Kleingruppen unter der Regie von Carolin Serafin und Henning Karge „Die Liebenden“ und „Die Elfen“ proben. Zum Abschluss zeigen sie einander die szenischen Ergebnisse und kommen noch einmal zur gemeinsamen Lieblingsimprovisation zusammen.
Theaterproben mit Sicherheitsabstand
Auf diese bewährte Art konnten die Proben für das Theaterprojekt, das über das Programm „Jugend ins Zentrum!“ des Bundesverbands Soziokultur e.V. gefördert wird, nur für eine kurze Zeit durchgeführt werden, dann machte der erste Lockdown im März 2020 einen Strich durch die Planung. Mit der Förderung durch das NEUSTART Sofortprogramm setzte der Verein ein umfassendes Schutz- und Hygienekonzept um, das die Wiederaufnahme der Proben im späten Frühjahr ermöglichte. Im Theatersaal geben Pfeile auf dem Boden ein Leitsystem vor, Desinfektionsmittelspender stehen zur Verfügung, geprobt wird nur noch in Kleingruppen – mit Sicherheitsabstand und Masken auf der Bühne. „Es ist trotzdem nicht dasselbe, es fehlt das Gefühl des Zusammenhalts, das vor allem durch das Zusammenkommen in der großen Gruppe entsteht“, erzählt Carolin Serafin.
Die Theaterprojekte im Kulturverein Platenlaase sind inzwischen ein Selbstläufer. Jugendliche aus Vorgängerprojekten wie „Legoland“ sind häufig wieder dabei und bringen Freund*innen zum nächsten Projekt mit. Die Theaterbühne ist den meisten schon seit ihrer Grundschulzeit bekannt. Hier zeigt die Freie Bühne Wendland jedes Jahr zur Weihnachtszeit ein Theaterstück, das von den umliegenden Schulen gerne besucht wird und für viele Kinder und Jugendliche oft das einzige Theatererlebnis ist. Bei diesen Aufführungen sind auf der Bühne auch Carolin Serafin und Henning Karge zu sehen, die vielen Schüler*innen darüber hinaus bereits von schulischen Theater-Workshops bekannt sind.
Herausforderung Mobilität im ländlichen Raum
Mobilität ist die größte Herausforderung, die von den Teilnehmenden bewältigt werden muss. „Im Grunde hat hier jedes Kind erschwerten Zugang zu Kunst und Kultur“, erklärt das Projektteam. Wer an den Proben teilnehmen möchte, muss lange Fahrten im Schulbus in Kauf nehmen oder ist auf engagierte Eltern angewiesen, die die Fahrt mit dem Auto übernehmen können. Wenn kein Fahrzeug zur Verfügung steht, viele Geschwisterkinder unter einen Hut zu bringen sind oder Jugendliche in öffentlichen Einrichtungen aufwachsen, kann das zu einem Hinderungsgrund für die Teilnahme werden. In einem Jahr stand den Jugendlichen ein durch den Landkreis finanziertes Jugendmobil samt Fahrer*in zur Verfügung – ein Angebot, das dauerhaft nötig wäre.
Der zweite Corona-Lockdown ist für die Schauspielgruppe zu einer Geduldsprobe geworden. Zurzeit ruhen die Proben, viel fehlt jedoch nicht mehr, um das Stück zum Abschluss und damit auch auf die Bühne zu bringen. Das webbasierte Buchungssystem und ein Sonnensegel ermöglichen die Entzerrung von Besucher*innen im Eingangsbereich. Im Theatersaal können durch die Ausarbeitung eines neuen Sitzplanes größere Abstände eingehalten werden. Die Mitarbeiter*innen sind intensiv in Hygienemaßnahmen geschult worden und blicken dem Theatersommer ebenso erwartungsvoll entgegen wie die Jugendlichen selbst. Der „Sommernachtstraum“ ist ein Stück, das gerade jetzt auf die Bühne muss, wie Henning Karge betont: „Der Sommernachtstraum ist genau das, was wir jetzt brauchen: ein lustig-buntes, schrilles, modernes, freches Stück. Ein Feuerwerk nach Corona!“
Ein Radiobeitrag zum Thema findet sich auf der Webseite des Vereins: https://www.platenlaase.de/radio-zusa-ueber-das-jugendtheater-in-platenlaase
Platenlaase Preview: Die Schauspieler*innen stellen Charaktere des Sommernachtstraums vor
Für alle, die genug vom Homeoffice haben, für alle, denen Netflix auf der Couch nicht reicht und für alle, die endlich wieder ins Theater gehen wollen, haben einige Jungschauspieler*innen vom Kulturverein Platenlaase Figuren und Szenen zusammengestellt, die Lust machen, den ganzen Sommernachtstraum zu sehen. Live und in Farbe und vor Ort. Vorhang auf!
Hermia
Hermia ist etwas zickig und eingebildet, aber auch emotional und empfindlich. Sie liebt Lysander sehr und würde so einiges auf sich nehmen, um mit ihm zusammen sein zu können. Meine Lieblingsszene ist der Morgen von Theseus‘ und Hippolytas Hochzeit, als die vier Liebenden aufwachen. Sie reden gemeinsam über ihre Erlebnisse und Erinnerungen an die Nacht und all der Schmerz, die Sorge, der Zweifel und die Wut scheinen wie ausgelöscht. Die vier sind sich einig und gehen als Gruppe gemeinsam zur Hochzeit von Theseus und Hippolyta. (Karla, 15)
Handwerker Schnauz
Ich bin Kevin und bin in einer Wohngruppe in Dannenberg. Ich spiele im Stück den Handwerker Schnauz. Schnauz ist ein sehr verpeilter Handwerker, ich glaube sogar, der dümmste. Ich mag diese Rolle, man hat wenig Text, aber muss sehr viel an seiner Mimik üben. Außerdem macht die Zusammenarbeit mit Carolin und Henning sehr viel Spaß. Die Gruppe ist auch ganz nett und ich komme gut mit allen klar.
Ich hoffe, wir können dieses Stück noch aufführen. (Kevin, 15)
Elf Senfsamen
Senfsamen ist ein Elf, der seiner Königin zwar jeden Wunsch erfüllt und zu seinen Artgenossen hält, zu anderen Gestalten aber häufig giftig und biestig ist. Er kann jedoch auch niedlich sein, wenn er will. (Was allerdings sehr selten der Fall ist.) Ich fühle mich sehr wohl in der Rolle, da Senfsamen sich wild und natürlich, nicht so zivilisiert verhält, was ich total mag, da ich Zivilisation manchmal echt nervig finde. Meine Lieblingsszene ist, als Oberon und Titania sich mit großem Spektakel um das Waisenkind streiten. (Marina, 14)
Handwerker Peter Squenz
Squenz ist ein androgyner und sehr liebenswürdiger Charakter und kann kaum jemandem böse werden. Dass er jedoch recht unsicher ist und nicht gerade das höchste Maß an Geduld hat, wird besonders deutlich durch die (möglicherweise ungewollten) Provokationen des Handwerkers Klaus Zettel.
Squenz liebt die Kunst und ist doch nicht wirklich künstlerisch, was ihm jedoch zum Leid anderer entgeht. Seine loyale und äußerst ehrliche Art ist bewundernswert und besonders in der Szene, in welcher Zettel vermisst wird, berührt mich seine zutiefst ehrliche Sorge jedes Mal. (Ron, 19)
Elfenkönig Oberon
Oberon ist im Streit mit seiner Frau Titania und belegt sie deswegen mit einem Zauber. Er ist ein temperamentvoller Herrscher, der sehr von sich überzeugt ist. Er ist cholerisch und lässt sich ungern auf der Nase herumtanzen. Zusammen mit seinem Gefolge und seinem Diener Puck setzt er seine Meinung immer durch. Gerade, weil ich normalerweise ein etwas ruhigerer Mensch bin, ist es sehr toll, eine so andere Rolle auf der Bühne zu verkörpern. Meine Lieblingsszene ist die erste Szene von Oberon und Titania. Sie streiten sich, aber neben dem Streit merkt man auch, dass die beiden Figuren sich sehr vertraut sind. (Hagen, 16)
Eine andere Version dieses Textes ist erschienen in SOZIOkultur Heft 1/2021
Weitere Informationen:
- Kulturverein Platenlaase, Jameln
- Förderprogramm „Jugend ins Zentrum!“ des Bundesverbands Soziokultur e.V.
Das NEUSTART Sofortprogramm ermöglichte Museen, neue digitale Vermittlungsstrategien für den Museumsbesuch zu entwickeln. Die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung im Münsterland, die Museen der Stadt Schwedt/Oder und die Saigerhütte im Erzgebirge haben mit multimedialen Angeboten digitale Zugänge zu ihren Ausstellungen geschaffen. So entstand vielerorts das erweiterte Museum.
Eine Virtual-Reality-Brille, kurz VR-Brille, zeigt eine digitale künstliche Welt, die die Realität widerspiegelt. Das Haus Rüschhaus im Münsterland, viele Jahre der Wohnsitz der Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff, hat zwei VR-Brillen angeschafft. Damit können die Besucher*innen in einem 360 Grad Rundgang die Wohnräume der berühmten Literatin kennenlernen, ohne direkt durch die Räume zu gehen. Die Enge des Hauses lässt eine Besichtigung unter Einhaltung der Abstandsregeln kaum zu, deshalb ermöglicht der virtuelle Rundgang die Aufrechterhaltung des Kulturangebots während der Pandemie.
Ein neuer Blick auf Exponate
Viele Museen bewegen sich beim Einsatz der futuristischen Brillen auf Neuland. „Es wird eine neue ästhetische Sicht entwickelt“, betont Kerstin Mertenskötter, Projektleiterin von Droste Digital. Die 360-Grad-Aufnahmen, die sich mit den VR-Brillen betrachten lassen, gewähren durch Heranzoomen und den Einsatz von Lichteffekten einen neuen Blick auf die ausgestellten Exponate. Kerstin Mertenskötter ist überrascht, wie gut das Angebot der VR-Brillen über die Altersgruppen hinweg angenommen wurde: „Auch die Menschen, die damit zunächst nichts anfangen konnten, waren nach dem 20-minütigen Rundgang begeistert. Familien, die eine Fahrradtour zur Burg Hülshoff gemacht haben, legten eine Pause ein und Kinder sind gezielt zu den VR-Brillen gegangen.“
Als weiteres digitales Angebot sind vier Videos zu Befreundeten Objekten entstanden, die von den Mitarbeiter*innen vorgestellt werden. Autor*innen haben dazu Texte verfasst und sie selbst eingelesen. Auch während der Schließung der Einrichtung können Interessierte sich Objekten wie der Kutsche, mit der Annette Droste-Hülshoff nach Münster fuhr, oder dem Herd als Zentrum der historischen Küche annähern.
Digitale Wissensvermittlung außerhalb der Museumsmauern
Für Kerstin Mertenskötter liegen die Vorteile der neuen digitalen Angebote klar auf der Hand: Es müssen keine großen Anfahrten zurückgelegt werden, um einen Einblick in museale Inhalte zu bekommen. Bilder und Videos außerhalb der Museumsmauern zur Verfügung zu stellen, bauen Berührungs- und Schwellenängste ab. Nutzer*innen bekommen Zugang zu den Museumsinhalten in ihrer vertrauten Umgebung, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Auch Menschen deren Mobilität eingeschränkt ist, können nun die Lebenswelt der berühmten Dichterin in Bild und Ton kennenlernen.
Das digitale Angebot ist dennoch eher eine Ergänzung des realen Museumsbesuchs als ein Ersatz. Die körperlich-sinnliche Dimension können Interessierte am intensivsten vor Ort erleben: Auf der kopfsteingepflasterten Burgzufahrt scheinen Gäst*innen noch das Pferdegetrappel der adeligen Kutsche zu hören, die die Dichterin für Reisen etwa ins vier Kilometer entfernte Münster nutzte. In der historischen Küche sticht den Besucher*innen Jahrhunderte alter Rußgeruch in die Nase.
Kontaktloser Abruf von Informationen mit individueller Route
Ganz real, dafür aber auf eigene Faust, lassen sich die historischen Bauten der ehemaligen Industriegemeinde Saigerhütte Olbernhau-Grünthal erkunden. Das Gelände im sächsischen Erzgebirge war jahrhundertelang ein Zentrum zur Gewinnung von Buntmetallen aus Erzen. Die Saigerhütte ist als Teil der Montanregion Erzgebirge seit 2019 UNESCO-Welterbe. Auf dem großflächigen Museumsareal befinden sich zahlreiche bauliche Denkmäler. Das Zentrum stellt die 1562 errichtete Lange Hütte dar.
Als Alternative zu persönlichen Führungen startete die Stadt Olbernhau ein bislang einzigartiges Projekt: Über Multimediasäulen, sogenannte Stecknadeln, sind Informationen direkt am jeweiligen Standort abrufbar. Damit wird eine kontaktlose Geländeführung rund um die Uhr ermöglicht. „Mit diesem neuartigen Stecknadelsystem werden die Besucher*innen in die Lage versetzt, sich kontaktlos im Gelände zu Häusern, Geschichte, Leben und Arbeit zu informieren“, erklärt Udo Brückner, Betriebsleiter für Kultur und Tourismus in Olbernhau. Die Stecknadelsäulen arbeiten mit Infrarot und Bewegungsmeldern, so dass ein Berühren nicht erforderlich ist. Die Besucher*innen erhalten zu Beginn eine Karte mit RFID-Chip, der die Kommunikation mit den Säulen übernimmt. So ausgerüstet bewegen sie sich frei über das Gelände und erhalten an den Säulen Informationen zu den jeweiligen Knotenpunkten. Ein weiterer Vorteil des Stecknadelsystems ist, dass die Besichtigung auf die individuellen Bedürfnisse der Besucher*innen angepasst werden kann: Je nach Altersgruppe, Vorkenntnissen und zur Verfügung stehender Zeit schlägt das System eine passende Route vor.
Mehr Orientierung im Gelände
Mit den frei wählbaren Routen wird das gesamte Gelände erschlossen. „Die Besucher*innen sind häufig orientierungslos durch das weitläufige Gelände gegangen und haben bestimmte Bereiche vernachlässigt“, schildert Udo Brückner. So wird beispielsweise der zuvor kaum beachtete Hüttenteich, in welchem das Wasser zum Antrieb von Wasserrädern gespeichert war, in den Routen berücksichtigt. Wer anstatt der Säulen sein Smartphone einsetzen möchte, kann eine Erweiterung für weitere zwölf Informationspunkte nutzen. Natürlich werden – abhängig von den Corona-Verordnungen – auch weiterhin Gruppenführungen angeboten. Doch für Menschen, die ihren Besuch individuell gestalten möchten, hat das Museum mit der neuen Technik ein attraktives Angebot auf dem Museumsareal umgesetzt.
Abbau von Barrieren durch Digitalisierung
Die an der Grenze zu Polen gelegene Stadt Schwedt/Oder hat für ihr Stadtmuseum, das Ritualbad und das Tabakmuseum einen 360 Grad Rundgang produzieren lassen. Auf der Webseite können Interessierte von Zuhause aus die Stufen des jüdischen Ritualbads hinabsteigen, im Gebetbuch des Martin Graf von Hohenstein blättern und die Geschichte des Tabakanbaus an der Unteren Oder kennenlernen. „Die Digitalisierung baut Barrieren ab. Auch Menschen, die physisch nicht in der Lage sind, die Museen zu besuchen, können einen Blick auf die Schwedter Geschichte werfen. Während der Pandemie-bedingten Schließung ist der virtuelle Rundgang ein Schatz für die Häuser“, erklärt Museumsleiterin Anke Grodon.
Auch in Post-Corona-Zeiten werden die digitalen Inhalte den Musemsbesuch bereichern. Die digitale Vermittlung der Museumsinhalte ist dank der neuen Audio- und Videoguides auf eine neue Ebene gehoben worden. Damit ist eine zukunftsweisende, innovative Lösung zur kulturellen Teilhabe für alle geschaffen, die dankbar von den Besuchern angenommen wird. Außerdem besteht jetzt die Möglichkeit, Museen, die lediglich saisonal geöffnet sind, ganzjährig digital zu besuchen. Anke Grodon gibt allerdings zu bedenken: „Das Digitale ist eine Möglichkeit der Überbrückung, eine Chance, im Gespräch zu bleiben. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Museen keinen Platz mehr brauchen.“ Das Museum als Ort der Wissensvermittlung, der Begegnung und des Austausches hat auch im digitalen Zeitalter seine Berechtigung.
Digitale Öffnung der Museen als Folge der Corona-Pandemie
Konfrontiert mit Schließungen und Kontaktbeschränkungen während der Pandemie haben Museen in die Digitalisierung der Ausstellungsvermittlung investiert. Insbesondere kleinere Einrichtungen betraten damit Neuland. Unter Pandemiebedingungen dienten die digitalen Formate dazu, den Kontakt mit den Menschen aufrechtzuerhalten oder die Zugänglichkeit von Objekten zu gewährleisten. Doch den persönlichen Besuch vollständig ersetzen können digitale Rundgänge nicht, da die körperlich-sinnliche Dimension für das Erleben eines historischen Ortes elementar ist. In der Post-Corona-Zeit werden digitale Angebote den analogen Museumsbesuch ergänzen und vertiefen.
Damit ergeben sich insbesondere für Museen in Regionen abseits großer Touristenströme Chancen, neue Zielgruppen anzusprechen und Barrieren abzubauen. Die digitalen Angebote müssen den Nutzer*innen einen Mehrwert liefern. Die Beispiele haben gezeigt, wie dieser Mehrwert aussehen kann: Ganze Ausstellungen können unabhängig von Ort und Zeit besichtigt werden, Besuche individueller und partizipativer gestaltet werden sowie neue ästhetische Erlebnisse geschaffen werden. So kann die Krise als Ausgangspunkt einer umfassenden digitalen Öffnung der Museen und einer neuen Ära musealen Erlebens dienen.
Weitere Informationen:
- Droste-Museum Burg Hülshoff und Haus Rüschhaus, Havixbeck
- Museum Saigerhütte, Olbernhau
- Städtische Museen Schwedt/Oder